Antonin Artaud und das Theater der Grausamkeit im Zusammenhang mit der Theaterkonzeption des antiteaters bei Fassbinder und dem Volksstück der 70er Jahre


Überlegungen aus dem Seminarkontext. Zusammentrag.


Artauds Theatermanifest (1. und 2. Manifest) kann als eines der einflußreichsten Versuche des 20. Jahrhunderts gelten, dem modernen Drama eine neue, wegweisende Poetik zu geben. In eigener Person Schauspieler, Regisseur und Autor (multitasking talent?) kennzeichnet er den auch durch Brecht vertretenen Typus einer neuen Dramatikergeneration in ihren Anfängen in den 30er Jahren, in dem die Grenze zwischen Autor und Regiesseur zum Verschwinden gebracht wird. Artaud selbst (1896-1948) gelingt es allerdings nur einmal, sein Konzept von einem Theater der Grausamkeit auf die Bühne zu bringen. 1935 verwirklicht er es mit mäßigem Publikumserfolg am Théatre de l'Etoile in Paris mit dem von ihm verfaßten Stück Cenci (basierend auf Stendhal und Shelley). [nur 17 Aufführungen]. Die eigentliche Artaud-Rezeption setzte aber erst nach dem Zweiten Weltkrieg ein. Ausgeprägt finden sich Anlehnungen an Artauds Theaterpoetik bei Roger Blinn, Jean Vilar, Peter Brook, Stücken von Jean Genet und auch in Peter Weiss' Marat. Bereits 1927 hatte sich Artaud von den Surrealisten um André Breton losgesagt und seine eigene "Welt" mit der Eröffnung des "Théatre Alfred Jarry" begründet. Neben dem Einfluß Jarrys sind sicherlich sein Interesse für das japanische No-Theater und das balinesische Theater als wichtige Impulsgeber zu nennen. 1938 stand Artauds Theaterkonzeption endgültig mit der Veröffentlichung von Le Théatre et son double. Artauds Einflußnahme spiegelt sich auf internationaler Ebene in den Entwicklungen des absurden Theaters in Frankreich, aber beispielsweise auch in den um Grotowski entstehenden Theater-Laboratorien in Polen und England wider. Begründet ist das Manifest und seine Theorie auf dem Krisenbewußtsein der Avantgarde der 10er und 20er Jahre (Expressionismus, Surrealismus, Dadaismus). Der kulturkritische, ja geradezu pessimistische Grundzug, der sich schon im negativ besetzten Titel artikuliert, durchzieht alle Pamphlete Artauds. Die Forderung nach einem reinen aber auch nach einem totalen Theater verbindet sich mit Vorstellungen des Exotismus (Ritual...) und dem eines naiven Schöpfungsgedanken zu einer eigenen Metaphysik. Die Idee der Grausamkeit wird als Weltformel verhandelt (Grausamkeit = Theater = absolute Determination = Dasein = Metaphysik; "Alles, was handelt, ist eine Grausamkeit."(90)). Sie ist philosophisches Prinzip und ästhetischer Schock gleichermaßen. Diese Art der auf Affektenlehre beruhende Theaterpoetik bindet sich auf dieser Ebene an Aristoteles karthasis-Prinzip an: eleos und phobos werden hier zu einem ganzheitlichen Prinzip von Grausamkeit als Gefühlanspruch zusammengebunden. Die purgierende Wirkung wird bei Artaud als therapeutische verstanden ("Seelentherapie").
Wichtigstes Zentrum zur Verwirklichung eines Theaters der Grausamkeit bildet die Sprache. Artaud unterscheidet zwischen der hörbaren Sprache der Laute und der sichtbaren Sprache der Gegenstände, Bewegungen, Haltungen und Gebärden. Der Text soll als feststehendes Fixum überwunden werden. Sprache dient zur Etablierung eines "dynamischen Ausdrucks im Raum". Die Anbindung an das Volksstück, gerade der neuen Generation, funktioniert auf mehreren Ebenen. Erst 1969 wird Artaud erstmals ins Deutsche übersetzt. Die verspätete Zurkenntnisnahme bedeutet ein unmittelbares Einwirken auf die Theatergeneration der Volksstückautoren, die sich ja an Brecht abarbeiten. Artauds Konzeption kann als diametral entgegengesetzt zu Brechts epischem Theater vestanden werden. Stand bei Brecht das Miterleben außer Frage und sollte durch Argumentation seine didaktisch erzieherisch aufklärerische Wirkung entfalten, fokussiert Artaud auf eine emotionale Gebundenheit, das Prinzip des Miterlebens wird entgegen Brecht an die erste Stellt gesetzt (das Theater soll Herz und Nerven ansprechen). Theater bei Artaud soll als Ritual, als Aktion und als Schock funktionieren. Die Intentionalität aber ist bei beiden ähnlich orientiert. Es geht um die Formung des Zuschauers in konkreter Weise, beispielweise in der Bedienung derselben Mittel: dem Einsatz von Musik und Kostüm (Masken) als Mittel der Verfremdung (Verfremdung bei Artaud = Versuchung), und beispielsweise der Verweigerung jeglicher psychologischer Einfühlung. Beide Konzepte arbeiten sich an Traditionen ab. Brecht bindet sie antithetisch und dialektisch ein, Artaud versucht sie schöpferisch naiv mit der Berufung auf das Ursprüngliche, auszuklammern. Das Hauptthema, die gesellschaftlichen Mechanismen offenzulegen unter dem Schwerpunkt von Gewalt-Verhältnissen im Alltag, findet sich ganz massiv in der Volksstückstradition bei Fassbinder und Sperr wieder. Die Volksstückautoren der 70er Jahre versuchen, Elemente des Brechtschen und artaudschen Theaters zu verbinden. Daß dieses Konglomerat nicht immer aufgehen kann, ist schon aus der unterschiedlichen Anlage der Theorien ersichtlich. Fassbinder als "genius materialicus" bedient sich ebenso wie bei den Stücken auch in der Theorie gleich einem Baukastenprinzip der beiden Theorien auf unterschiedlichsten Ebenen, er hielt sich nicht sklavisch an eine Doktrin. Spiel- und Sprechweise orientieren sich bei Fassbinders frühen Lehrstücken klar an Artaud: rhytmisiertes ritualisiertes Sprechen, Reizüberflutung etc. "Die Gewalt ist das "Ergebnis ungelebten Lebens", so steht es im Stuttgarter Programmheft, aber auf der Bühne wurde diese Dialektik nur in Ansätzen entwickelt. Das Theater der Grausamkeit fasziniert mehr als das Lehrstück vom alltäglichen Faschismus. Brecht unterliegt Artaud, die Bühnenrezeption läßt daran keinen Zweifel."(Töteberg, S.29).
Mit der Anbindung an Artaud verbindet sich aber auch die Absage an jeglichen Bühnenrealismus. Vielmehr ergibt sich die Forderung nach einem Drama, das kollektive Archetypen auf die Bühne projiziert. Die Wiedereinführung bzw. Neubewertung der Gebärden- und Bewegungssprache unterstützt das Abrücken vom Psychologischen zu einem Plastisch-Körperlichen.

Literatur:
Michael Töteberg: Das Theater der Grausamkeit als Lehrstück. Zwischen Brecht und Artaud: Die experimentellen Theatertexte Fassbinders. In: Rainer Werner Fassbinder. Text und Kritik. S. 20-34.

Hinweise:
Marianne Kesting: Das Theater der Grausamkeit. Das Living Theatre und sein Bekenntnis zu Artaud. In: Die Zeit, 14.4.1967.
Axel Bölling: Die Bedeutung Artauds und Brechts für die Dramen Rainer Werner Fassbinders. Staatsexamensarbeit.