WS 2001/02
Proseminar: Textinterpretation
LV 0131L013
Mo 12-14
H 2051


Das moderne Volksstück

Mit dem Erscheinen von Martin Sperrs Jagdszenen aus Niederbayern 1966 stellte die Kritik das Wiederaufflammen einer Theatertradition fest, die ihre letzte Hochphase zu Beginn des 20. Jahrhunderts hatte: dem Volksstück. Schnell zog man die Verbindungslinien zu Marieluise Fleißer, Ödön von Horváth, ja in mancherlei Hinsicht auch zu Brecht. Spätestens mit der an Fleißer gerichteten Widmung seines Stückes und des gleichlautenden Filmes Katzelmacher (1971) hatte Rainer Werner Fassbinder diese Orientierung selbst forciert, Franz Xaver Kroetz hat sie fortgesetzt. Marieluise Fleißer hat diese "Renaissance des Volkstheaters" noch in den 70er Jahren selbstgestaltend miterleben dürfen. Das moderne Volksstück der 68er Generation ist geprägt von den politischen Auseinandersetzungen der Zeit. Auf der Suche nach neuen Formen des Theaters wollte man Brecht überwinden und fand doch in der 'realistischen' Aufarbeitung der Gegenwartsproblematik zu ihm zurück. Eine mögliche Folie bot die Anknüpfung an das sozialkritisch-realistische Volksstück. So begegnet man Ende der 60er, Anfang der 70er Jahre einer Reihe von Stücken, deren markantestes Kennzeichen der meist bayrisch-österreichische Dialekt ist, dessen Funktion als Theatersprache von den Autoren aber sehr unterschiedlich eingesetzt wird. Dieses gesellschaftskritische Theater, das durchaus lehrhafte Züge trägt, wählt sich als Schauplatz die Provinz, in deren abgekapselter Welt jene Themen schlummern, deren provokatives Potential diese Autorengeneration für sich entdeckt: Die latente Brutalität, die Ausgrenzung von Minderheiten, ja die offene Inhumanität sind Ausformungen dieser oft klischéehaft skizzierten, zumeist bäuerlichen Gesellschaft - vom Volksschauspiel im Stil des Ohnesorg-Theaters oder der Löwinger Bühne sind sie meilenweit entfernt.
Das Seminar widmet sich - in Anbindung an die von Kritik und Forschung immer wieder aufgestellte These der Verwandtschaft zwischen Fleißer, Horváth und Brecht einerseits und der Generation um Sperr, Fassbinder und Kroetz andererseits - der Lektüre und Analyse dieser Volksstücke. Kritisch soll diese Anbindung hinterfragt, Gemeinsamkeiten aber auch Unterschiede der Stückkonzepte herausgearbeitet werden.
Da die gemeinsame Arbeit am Text im Vordergrund der Seminarsitzungen stehen soll, sind für den Erwerb eines Teilnahmescheines neben der Übernahme eines Kurzreferats und der regelmäßigen Teilnahme eine Literaturrecherche und eine kleinere schriftliche Hausaufgabe Bedingung, die beide zudem auf das Schreiben einer Hausarbeit vorbereiten und den Umgang mit Forschungsliteratur trainieren sollen.

Anläßlich des 100. Geburtstages von Marieluise Fleißer zeigt das Berliner Ensemble eine Aufführung ihres Stückes Fegefeuer in Ingolstadt. Ein gemeinsamer Besuch ist geplant.

Stückauswahl (s.a. Handapparat in der Germanistik-Bibliothek):

Marieluise Fleißer: Fegefeuer in Ingolstadt
Ödön von Horváth: Geschichten aus dem Wiener Wald
Bert Brecht: Herr Puntila und sein Knecht Matti
Martin Sperr: Jagdszenen aus Niederbayern
Rainer Werner Fassbinder: Katzelmacher
Franz Xaver Kroetz: Wildwechsel
Peter Turrini: Sauschlachten
Felix Mitterer: Kein Platz für Idioten
Heinrich Henkel: Eisenwichser