Für wen ich singe
Ich singe nicht für kleine Knaben,
Die voller Stolz zur Schule gehn,
Und den Ovid in Händen haben,
Den ihre Lehrer nicht verstehn.
Ich singe nicht für euch, ihr Richter,
Die ihr voll spitz'ger Gründlichkeit
Ein unerträglich Joch dem Dichter,
Und euch die Muster selber seid.
Ich singe nicht den kühnen Geistern,
Die nur Homer und Milton reizt;
Weil man den unerschöpften Meistern
Die Lorbeern nur umsonst begeizt.
Ich singe nicht, durch Stolz gedrungen,
Für dich, mein deutsches Vaterland.
Ich fürchte jene Lästerzungen,
Die dich bis an den Pol verbannt.
Ich singe nicht für fremde Reiche.
Wie käm mir solch ein Ehrgeiz ein?
Das sind verwegne Autorstreiche.
Ich mag nicht übersetzet sein.
Ich singe nicht für fromme Schwestern,
Die nie der Liebe Reiz gewinnt,
Die, wenn wir munter singen, lästern,
Daß wir nicht alle Schmolken sind.
Ich singe nur für euch, ihr Brüder,
Die ihr den Wein erhebt, wie ich.
Für euch, für euch sind meine Lieder.
Singt ihr sie nach: o Glück fü mich!
Ich singe nur für meine Schöne,
O muntre Phyllis, nur für dich.
Für dich, für dich sind meine Töne.
Stehn sie dir an, so küsse mich.
Gotthold Ephraim Lessing: anakreontische Dichtung · Arbeitsblatt 5
Bemerkung: Die meisten von Lessings Liedern erschienen zwischen 1747 und 48 zunächst separat in den Berliner Zeitschriften seines Vetters Christlob Mylius (Ermunterungen zum Vergnügen des Gemüts, Der Naturforscher) bzw. in der Rubrik Das Neueste aus dem Reiche des Witzes als Beilage der angesehenen Berlinischen privilegierten Zeitung. 1751 publizierte Lessing die Lieder gesammelt unter dem Titel Kleinigkeiten, 1753 erschienen sie mit einigen Auslassungen und Vermehrungen als erster Teil der Schriften, 1771 nochmals in den Vermischten Schriften, wobei Lessing eine Reihe sorgfältiger Textrevisionen vornahm. Die hier ausgewählten zwei Gedichte untermauern vielleicht noch einmal die wichtigsten Motive der anakreontischen Dichtung des 18. Jahrhunderts, wie sie auch in den Werken des Zweiten Halleschen Dichterkreises (Gleim, Götz und Uz) zu finden sind. Lessing selbst äußerte sich in der Ausgabe von 1753 wie folgt: "Diese Lieder enthalten nichts, als Wein und Liebe, nichts als Freude und Genuß …. Man nenne sie jugendliche Aufwallungen einer leichtsinnigen Moral, oder man nenne sie poetische Nachbildung niemals gefühlter Regungen; … man gehen ihnen entweder einen allzuwahren Grund, oder man gebe ihnen gar keinen: alles wird mir einerley seyn. Genug sie sind da, und ich glaube, daß man sich dieser Art von Gedichten so wenig als einer andern, zu schämen hat."