Allgemeine und einführende Literatur zum Thema Dramenanalyse für Literaturwissenschaftler:
- Bernhard Asmuth: Einführung in die Dramenanalyse. Stuttgart 1980.
- Gustav Freytag: Die Technik des Dramas. Leipzig 1863. [histor. Text]
- Hans-Dieter Gelfert: Die Tragödie. Theorie und Geschichte. Göttingen 1995.
- Ders: Wie interpretiert man ein Drama. Stuttgart 1992.
- Volker Klotz: Geschlossene und offene Form im Drama. München 1960.
- Manfred Pfister: Das Drama. München 1982.
- Peter: Szondi: Versuch über das Tragische. Frankfurt am Main 1961.
- Ders.: Theorie des modernen Dramas. Frankfurt am Main 1956.
Buchreihen, die kaum oder gar nicht (!) für den literaturwissenschaftlichen Gebrauch geeignet sind (nur als Hilfsmittel zu verwenden) und in der Regel nicht zitierfähig sind:
Editionen für den Literaturunterricht. Hrsg. von Dietrich Steinbach. Stuttgart: Klett.
- Grundlagen und Gedanken zum Verständnis des Dramas. Hrsg. von Hans-Gert Roloff. Frankfurt am Main: Diesterweg.
- Königs Erläuterungen und Materialien. Hollfeld: Bange.
- Erläuterungen und Dokumente. Stuttgart: Reclam. [in Einzelfällen literaturwissenschaftlich nutzbar]
I. Blick in die Geschichte der Dramenanalyse
II.
Gustav Freytags Technik des Dramas (1863), Kap. 2, 2: Fünf Teile und drei Stellen des Dramas:
- literaturwissenschaftlich überholter Versuch, den Aufbau von Dramen in ein pyramidiales Schema zu übersetzen. Dieses meist durch die Schulen verbreitete Modell gilt in der Literaturwissenschaft als veraltet.
Fünf Teile des Dramas: a) Einleitung, b) Steigerung, c) Höhepunkt, d) Fall oder Umkehr, e) Katastrophe
Drei dramatische Momente: 1. zwischen a) und b): das erregende Moment 2. zwischen c) und d): das tragische Moment 3. zwischen d) und e): das Moment der letzten Spannung
Zwei Positionen zur Frage nach der geeigneten Methode, ein Drama zu analysieren:
Peter Szondis Vorwurf an Strukturtypologien (Modellen, wie denen von Gustav Freytag) aus der Perspektive einer immanenten Textinterpretation (= textnah):
- Solche Beschreibungsmodelle sind nicht in der Lage, "sich in das einzelne Kunstwerk zu versenken, (...) die historischen Implikationen seines Gehaltes an ihm selber zu untersuchen." [Peter Szondi, Das lyrische Drama des Fin de siècle, hrsg. von H. Beese, Frankfurt am Main 1975, S. 23.]
Manfred Pfisters Verteidigung eines über-individuellen und über-historischen, systematischen Beschreibungsmodells:
- "Die Entwicklung von Strukturmodellen und typologischen Rastern [sollte man] nicht als Selbstzweck begreifen, sondern sie in finalem Bezug auf die Analyse von Einzeltexten betreiben. [...] Denn wie ist ein Sich-Versenken in das einzelne Kunstwerk möglich, wenn nicht mit Hilfe differenzierter Wahrnehmungs- und Beschreibungsraster?" [Manfred Pfister, Das Drama, Theorie und Analyse, 11. Auflage, München 2001, S. 382.]
II. Dramenanalyse light · Zwei Wege, ein Drama zu lesen · Kurzfassung
Quelle 1: Hans-Dieter Gelfert: Wie interpretiert man ein Drama? Stuttgart 2000.
- Grundformen dramatischer Präsenz:
- Spielen, Zeigen, Darstellen
- Elemente des Dramas:
- Figur (statt Charakter)
- Geschehen (statt Handlung)
- Dramatische Rede
- Schauplatz
- Kunstgriffe des Dramatikers:
- Dimensionierung: Erweiterung des Bühnenraumes durch Teichoskopie (= Mauerschau) oder Botenbericht
- Sprachliche Verdichtung bzw. Beschleunigung durch Stichomythie (= Zeilenrede)
- Kommentierung des Geschehens durch außenstehende Beobachter wie den antiken Chor: warnen, werten, richten, auch als "idealisierter Zuschauer" bezeichnet.
- In medias res: Festlegung des Erregungsniveaus (Verhältnis von potentieller zu kinetischer Energie); oft wird mit Nebenfiguren begonnen;
- Auftakt: Wahrnehmung der Fallhöhe des Helden bindet sich an eine relative Wahrnehmung; deshalb werden den Helden Assistenzfiguren oder niederes Personal an die Seite gestellt, um die Fallhöhe deutlicher zu zeichnen.
- Anfangsspannung kann auch erzeugt werden durch etwas Ungewöhnliches oder Geheimnisvolles.
- Wirkungsmechanismus: schlagartige Aufmerksamkeit, Neugier wecken, Handlung in Gang setzen
- Vorausdeutung: Ziel des Dramas ist es nicht, das etwas überrascht Unvorhersehbares passiert, sondern daß etwas eintritt, was unbestimmt erwartet wurde:
- D.h. der Text eines Dramas ist wie eine Landkarte, auf der ständig Wegweiser eingezeichnet sind, die auf den Zielpunkt hinweisen.
- "Solchen vorausdeutenden Signalen muß der Interpret nachspüren, wenn er den Kunstcharakter des Stückes freilegen will."(S. 50)
- Abstufungen und Kontraste der Figuren:
- Protagonist - Antagonist als Haupttangente
- Die Kunst liegt in der Abstufung und Aufteilung auf verschiedene Figuren.
- "Um die ethischen Konflikte freizulegen, die in einem Drama aufgetragen werden, muß man deshalb zuallerst die Abschattierungen des Problems in den Figuren herausfinden. Danach zeichnet sich meist ein sehr deutliches Wertprofil ab."(S. 51)
- Drehpunkt: Ein Drama entfaltet sich in der Regel aus dem Widerstreit zweier gegensätzlicher Positionen. Während diese Positionen durch ihre Repräsentaten sichtbar gemacht werden, bleibt der Drehpunkt unsichtbar.
- "Es ist besonders wichtig, den Drehpunkt zu sehen."(S. 55)
- Abstufungen des Stils und der Sprache: unterschiedliche Gesellschaftsschichten verlangen unterschiedliche sprachliche Markierungen. Auf den beiden, dem Drama zur Verfügung stehenden Sprachebenen - Vers und Prosa - läßt sich durch sprachliche Manierismen und Affektiertheiten eine ganze Skala charakterlicher Nuancen ausdrücken.
- "Bei der Analyse eines Dramas wird man deshalb sehr genau hinhören müssen, auf wechem Stilniveau die Sprache einer Figur angelegt ist und welche moralischen Implikationen damit intendiert sind."(S. 52)
- Komische Entlastung: comic relief (bei Shakespeare) wird eingesetzt, wenn eine konstant hohe Spannung gehalten werden muß.
- Dramatische Ironie: bezeichnet einen absichtsvollen Widerspruch zwischen Gesagten und Gemeintem. Im Drama spricht man von Ironie dann, wenn der Zuschauer mehr weiß als die Figuren (Wirkungsmechanismus). Diese Ironie kann einen tragischen und/oder komischen Charakter haben.
- Verwechselungen: Situationskomik
- Leitmotive: der Begriff stammt aus der Musik (Richard Wagners Leitmotivtechnik): Ankündiung oder Begleitung einer Figur oder eines thematischen Aspekts durch ein bestimmtes, leicht erkennbares Motiv. (auch in der Epik zu finden, vor allem bei Thomas Mann). Schon bei Shakespeare (iterative imagery) Wiederholung bestimmter Bilder und Metaphern.
- Requisiten als Kristallistationskerne: der unsichtbare Drehpunkt, um den die Positionen des Dramas kreisen, wird oft durch einen sichtbaren Gegenstand markiert. Dieser Gegenstand hat oft auch eine symbolische Bedeutung, vor allem für die Thematik des Stücks (z.B. die eiserne Hand von Götz, der zerbrochne Krug).
- Sympathielenkung: Lenkung der Sympathie durch den Aufbau der Szenen, die unterschiedlichen Perspektiven auf das Handeln einer Figur.
- "Das Nachzeichnen solcher Sympathiekurven ist wichtig, wenn man die moralische Einschätzung einer Figur durch den Autor herausfinden will."(S. 56)
- Parallelhandlungen: typisches Merkmal in der Komödie, Widerspiegelung eines Geschehens auf einer anderen, meist niederen Ebene.
- Kontrapunkt: kontrapunktische (= gegenläufige) Handlungen als Ganzes sind im Roman häufiger; oft bei Kleist (z.B. Käthchen).
- Symmetrie: spiegelbildliche Bauweise innerhalb eines Stranges oder von zwei kontrapunktischen Handlungssträngen; auch Konvergenz (=Annäherung, Übereinstimmung) einer aufsteigend positiven zu einer absteigend negativen thematischen Entwicklungs- oder Handlungslinie
- Progression oder Regression: Entwickelt sich die Handlung linear oder wird ein zurückliegender Sachverhalt aufgedeckt (= analytisches Drama)
Quelle 2: Volker Klotz: Geschlossene und offene Form im Drama. München 1999.
- Klotz entwickelt seine Gattungspoetik des Dramas anhand eines Modells, das er von Heinrich Wölfflins Kunstgeschichtlichen Grundbegriffen ableitet.
- Es handelt sich um eine induktive Methode (aus der Fülle des Materials einen Idealtypus herausschälen).
- Die Einordnung von Dramen folgt formalen Prinzipien (nicht historischen oder thematischen).
- Die Methode: Oppositionen erkennen und festlegen.
- Es werden zwei "Idealtypen" konstruiert, wobei diese nicht absolut genommen werden dürfen!
- "Angeregt durch W.[…] zielt das Buch darauf ab, gegensätzlichen Haupttendenzen von Dramenkonstruktionen idealtypisch zu beschreiben, um die Vielfalt der Möglichkeiten gleichsam von ihren äußeren Flanken her abzustecken." (S.16)
- Das Buch versteht sich als ein "Handwerkskasten" zur Bewertung und formalen Analyse dramatischer Texte in den Kategorien:
- Handlung
- Personal
- Raum
- Zeit
- Sprache
- Komposition
- Ziel des Autors: den Blick für Konstruktionsformen schärfen und zugleich die Neigung zu weltanschaulichem Gefasel drosseln.
- Die aufgezeigten Merkmale sollen dazu verhelfen, "die besondere Eigenart und Gruppierung dramatischer Werke schärfer zu sehen und zu beschreiben." (S. 19) "Denn Gattungspoetik ist der Ort, wo sich die Erfüllung wie die Verletzung von Konventionen treffen."(S. 20)
- Negative Folgen: "Es verleitet dazu, sowohl geschichtliche Fragen zu unterlaufen wie auch die individuelle Unverwechselbarkeit eines bestimmten dramatischen Werks verschwinden zu lassen durch allzu pauschale Rubrizierung, je und je, in Geschlossene oder Offene Form. Was nur als Voraussetzung und Instrument von Dramenanalyse gedacht war, schlug unversehens um zum vorweggewünschten, wenig ergiebigen Resultat."(S. 17)
- Nicht berücksicht wird: die Unterscheidung von Komödie und Tragödie.
- Oppositionen:
- Offen / Geschlossen
- Diskontinuität / Kontinuität
- Asymmetrie / Symmetrie
- Entgrenzung / Grenze
- Fülle / Enge
- Fragment / in sich geschlossenes Ganzes
- Eigenständigkeit der Teile / Bindung an eine Zielrichtung
- Das Ganze in Ausschnitten / Der Ausschnitt als Ganzes
- Vielfalt / Einheit (Raum, Zeit, Handlung, Personen, Stände, Sprache)
- Verwischungen / Übersichtlichkeit
- punktuell interruptiv / kontinuierlich
- Gleichwertiges reihend / einer Entwicklung folgend
- labile Unausgewogenheit / stabile Ausgewogenheit von Spiel und Gegenspiel
- über Grenzen hinausdrängen / in sich ruhen