Allgemeine und einführende Literatur zum Thema Erzähltexte für Literaturwissenschaftler:



Aspekte einer Analyse von erzählenden Texten:



Zwei Möglichkeiten, Erzählttexte zu analysieren:




Versuch einer Definitionsbestimmung von fiktionalen Texten

(nach http://www.uni-essen.de/literaturwissenschaft-aktiv/einladung.htm , weiterführende Informationen dort)

Als fiktional (von lat. fingere: bilden, erdichten, vortäuschen) werden Texte bezeichnet, die keinen Anspruch darauf erheben, an der außersprachlichen Wirklichkeit überprüfbar zu sein. Somit gilt 'Fiktionalität' als eines der wichtigsten Kriterien für literarische Texte und zur Unterscheidung vom 'Wirklichkeitsbericht' bzw. faktualen Texten (von lat. factum: Geschehen, Tatsache). Erstmals hat Aristoteles in seiner Poetik (4. Jh. v. Chr.) auf diesen Unterschied hingewiesen. Nicht an der sprachlichen Form könne man die Erzählung von 'erfundenen' und 'tatsächlichen' Begebenheiten unterscheiden, sondern daran, was erzählt werde: "Denn der Geschichtsschreiber und der Dichter unterscheiden sich nicht dadurch voneinander, daß sich der eine in Versen und der andere in Prosa mitteilt [...]; sie unterscheiden sich vielmehr dadurch, daß der eine das wirklich Geschehene mitteilt, der andere, was geschehen könnte." (Aristoteles, S. 29)
Gérard Genette hat in seinem Buch Fiktion und Diktion (1991) diese Unterscheidung ausgebaut und erzähltheoretisch begründet. Mit ihm haben die Begriffe fiktional und faktual weitgehende Anerkennung gefunden. Dennoch ist eine Trennungslinie zwischen fiktionalen und faktualen Texten nicht immer eindeutig zu ziehen. Einerseits wird in vielen faktualen Textsorten mit Techniken gearbeitet, die als charakteristisch für fiktionale Literatur gelten. So verwenden z.B. Reportagen oder auch die Geschichtsschreibung häufig "fiktionalisierende" Strategien. Andererseits beziehen sich viele fiktionale Texte auf Orte, Zeiten und Sachverhalte, die unbestreitbar in der außersprachlichen Wirklichkeit ihren Platz haben. Der Vergleich des französischen Schriftstellers Paul Valéry bringt das Problem auf den Punkt: So wie der Löwe kaum mehr als verdautes Lamm sei, so bestehe die Fiktion fast ausschließlich aus fiktionalisiertem Realen. Das Ganze, so könnte man sagen, ist fiktionaler als seine Teile. Entscheidend für die Einordnung eines Textes als fiktional oder faktual ist in vielen Fällen das Wissen des Lesers um die Hintergründe seiner Entstehung und Rezeption. Häufig bestimmt bereits die Situation, d.h. der Kontext im weitesten Sinne darüber, wie man einen Text liest. Ein wichtiges Indiz, das keinen Zweifel am Status des Textes läßt: Indem der Autor seinen Text mit einer Gattungsangabe - nämlich 'Roman'- versieht, schließt er gewissermaßen einen 'Pakt' beziehungsweise einen 'Fiktionsvertrag' mit seinen Lesern. Er gibt ihnen zu verstehen, daß er seinen Text als Roman, als eine erfundene Geschichte gelesen wissen möchte.
Solche eindeutigen, die Lektüre steuernden Gattungsangaben kann man mit Genette 'Paratexte' (in etwa: was neben dem Text steht) nennen (vgl. Intertextualität). Das Kontextwissen, die Lektüresituation in einer bestimmten 'Institution' und paratextuelle Angaben können in ihrer Gesamtheit als 'textexterne' (außerhalb des Textes angesiedelte) Fiktionalitätssignale verstanden werden.
Ob auch im Text selbst Anzeichen für seinen fiktionalen oder faktualen Charakter zu finden sind, hat die Germanistin Käte Hamburger (1896-1992) intensiv untersucht. In ihrem vieldiskutierten Buch Die Logik der Dichtung (zuerst 1957) versucht sie, den fiktionalen Status eines Textes aus ihm selbst zu begründen, also 'textinterne' Fiktionalitätssignale aufzufinden. Hamburger zufolge gibt es vor allem drei Charakteristika, die einen fiktionalen Text von einem faktualen unterscheiden: Erstens bedient sich der epische Erzähler "Verben der inneren Vorgänge" (Hamburger, S. 72) - oder genauer: des Wahrnehmens, Fühlens, Denkens -, um Gedanken und Gefühle von Figuren mitzuteilen, die er in der dritten Person eingeführt hatte. Sätze wie der folgende werden dadurch möglich: "Beim Anblick der Leiche dachte Sherlock Holmes an die vorangegangene Mordserie und kam nicht umhin, sich an diesem neuerlichen Verbrechen mitschuldig zu fühlen." Während der Einblick in die Gedanken- und Gefühlswelt einer in der dritten Person Singular beschriebenen Figur in einem fiktionalen Text problemlos akzeptiert wird, müßte sich der Autor eines Wirklichkeitsberichts fragen lassen: Woher wissen Sie das? Ein weiteres Indiz für den fiktionalen Charakter eines Textes ist die Verwendung der sogenannten 'erlebten Rede' (vgl. auch: Formen der Bewußtseinswiedergabe). Dabei handelt es sich um eine sprachliche Konstruktion, in der die Aussage einer Figur (in direkter Rede) mit der des Erzählers (im Imperfekt und der Dritten Person) überblendet wird. Hamburger zufolge findet man diese Form ausschließlich in fiktionaler Prosa.
Ein drittes 'textinternes' Fiktionalitätssignal ist der Gebrauch eines ganz bestimmten Erzähltempus. Wie im Französischen üblicherweise im passé simple oder im Italienischen im passato remoto erzählt wird, ist das typische Erzähltempus im Deutschen das Imperfekt bzw. Präteritum. Während das normale, sogenannte "historische" Präteritum in einem Wirklichkeitsbericht etwas unzweifelhaft Vergangenes bezeichnet, geht ihm diese zeitliche Dimension in einem fiktionalen Text verloren: Man liest einen Roman - trotz Präteritum - so als laufe das Geschehen im Hier und Jetzt ab. Dieses epische Präteritum sei, meint Hamburger, für die "Zeitlosigkeit der Fiktion" (Hamburger, S. 78) verantwortlich. Allerdings ist diese Ansicht lebhaft bestritten worden. Jochen Vogt vollzieht in seinen Aspekten erzählender Prosa diese Auseinandersetzung ausführlich nach.

Quellen:

Aristoteles: Poetik, übers. u. hg. v. Manfred Fuhrmann, Stuttgart 1982;
Käte Hamburger: Die Logik der Dichtung, Stuttgart 1968.
Sekundärliteratur: G. Genette: Fiktion und Diktion, München 1992;
J. Vogt: Aspekte erzählender Prosa, 8. Aufl., Opladen 1998.



Die Germanistik und die Theorie des Erzählens · Ein Fallbeispiel:

Gérard Genette, geb. 1930, Paris; Literaturtheoretiker

Wer sich erst einmal in das Universum von Genettes Arbeiten begeben hat, kommt so schnell nicht wieder heraus. Er / sie stößt auf grundlegende literaturtheoretische Fragen wie: Was macht einen fiktionalen Text aus? Wie funktioniert ein solcher Text? Welche Beziehungen unterhält er zu anderen Texten? Der Frage nach dem Status des literarischen Textes und der Unterscheidung zwischen Fiktion und Tatsachenbericht ist Genette vor allem in Fiction et Diction nachgegangen. Die größte Breitenwirkung hat jedoch sein zentraler Beitrag zur Erzählforschung (Narratologie) erlangt. In den Abhandlungen Discours du récit und Nouveau discours du récit entfaltet Genette seine Kategorien zur Erzähltextanalyse. Dabei folgt er einem strukturalistischen Ansatz, der seit Mitte der sechziger Jahre in Frankreich die literaturtheoretische Diskussion bestimmt hat. Er stellt Fragen der inhaltlichen Interpretation zurück und konzentriert sich auf die formale Verfassung der Texte. Das ist nicht unbedingt eine Einschränkung, kann doch die "Ansicht von der Welt", wie Genette formuliert, "auch eine Frage des Stils und der Technik sein." Mit der 'Transtextualität' hat Genette (in Palimpsestes) einen Oberbegriff geschaffen, der verschiedene Beziehungen umfaßt, die über den manifesten Text hinausweisen. Im einzelnen unterscheidet er zwischen 'Intertextualität' im engeren Sinne (das Zitat und andere Formen der punktuellen Bezugnahme auf vorangehende Texte), 'Hypertextualität' (die stilistische oder thematische Umformung kompletter Texte), 'Metatextualität' (literaturwissenschaftliche oder -kritische Kommentare), 'Paratextualität' (was "das Buch zum Buch macht", also Titel, Motti, Vor- und Nachworte, der Schutzumschlag usw.) und 'Architextualität' (die Bezüge zu einer übergreifenden Kategorie, zum Beispiel einer Gattung, in die ein Text sich einschreibt). Die erste Begegnung mit dieser Begrifflichkeit kann sicherlich Befremden auslösen. Genette hat - vor allem für seine Erzähltextanalyse - ein begriffliches Instrumentarium entwickelt, das fast wie eine Fremdsprache erlernt sein will. Hat man jedoch die ersten Lektionen seines Greco-Französisch (mit 'Analepsen', 'Prolepsen', 'Homodiegetizität' usw.) hinter sich, dann überzeugt die stringente Logik der Terminologie. Ihre außerordentliche Trennschärfe hat dazu geführt, daß sie sich in der internationalen Erzählforschung als Standard-Vokabular weitgehend durchgesetzt hat.

Auch wenn Genettes Systematik nicht jede Erscheinung der literarischen Praxis eindeutig definieren kann, so stellt sie doch ein Raster bereit, mit dessen Hilfe Sachverhalte und Probleme näher bestimmt und genauer eingegrenzt werden können. Für seine Arbeit ist kennzeichnend, daß er gewonnene Erkenntnisse nie als letzte Wahrheiten betrachtet. Das Arsenal der Beschreibungs- und Analysemethoden hat für ihn operativen Wert: eine Theorie muß nicht buchstabengetreu gehandhabt werden, sondern darf (ja muß) den praktischen Bedürfnissen gemäß abgewandelt, weiterentwickelt oder auch verabschiedet werden. Neben diesem "wissenschaftlichen Pragmatismus" zeichnet Genette aus, daß er die "trockene" formale Analyse mit einer kräftigen Prise Humor und Selbstironie würzt - eine in der (Literatur-) Wissenschaft nicht eben verbreitete Gabe, die vor allem dem Lesenden zugute kommt. Wann schmunzelt man schon bei der Lektüre wissenschaftlicher Texte?

Genettes Arbeiten sind dem deutschsprachigen Publikum erst in den letzten zehn Jahren in einem breiteren Umfang bekannt geworden; auch weil die germanistische Literaturwissenschaft sich in den siebziger Jahren mit Konzepten der Sozialgeschichte und Ideologiekritik von der langen Vorherrschaft der werkimmanenten Interpretation erholte und Genettes formale Analysemethoden nur schwer Interesse finden konnten. Mittlerweile hat sich jedoch eine respektable Fan-Gemeinde gebildet, die die "Mischung von Rationalität und ésprit" (J. Vogt) durchaus zu schätzen weiß.

Genette war Professor für französische Literatur an der Sorbonne und ist bis heute Forschungsdirektor an der École des Hautes Études en Sciences Sociales in Paris. Gemeinsam mit Tzvetan Todorov und Hélène Cixous gibt er die renommierte Zeitschrift Poétique heraus.